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Spättle, Plätzle oder Fleckle! von Dr. Jochen Schicht „1200“, Iris Bahr lässt sich die Zahl auf der Zunge zergehen, „1200 Stoffstücke bedecken ein Gengenbacher Spättlehäs.“ Als Schneiderin und aktive Spättle-Närrin weiß sie, wovon sie spricht. Viele Gengenbacherinnen lassen sich von ihr beraten, wenn es darum geht, ein „Spättle“ herzustellen. Zunächst muss Stoff gesammelt werden. Zukauf oder Resteverwertung ist angesagt. Danach steht Ausschneiden auf dem Programm. Immer wieder aufs Neue findet die Schere ihren Weg um die Schablonen aus Pappe oder Metall. Ein Ende ist lange nicht in Sicht. Während des Zusammennähens der 1200 doppelten Stoffzungen stoßen Mensch und Maschine schon einmal an ihre Grenzen: „Bei meiner Freundin hat plötzlich die Nähmaschine gequalmt“, erinnert sich Iris Bahr und lächelt. Der nächste Arbeitsschritt ist Familiensache, denn das Umstülpen der „Spättle“ mit dem Kochlöffel erfordert keinerlei Vorkenntnisse. Nach dem Bügeln werden die vielen mittlerweile farblich abgestimmten Läppchen mit Hilfe von Nahtbändern auf Kittel, Hose und Haube genäht. Was hat es mit diesen „Spättle“, „Plätzle“ oder „Fleckle“, den bunten Rauten, Scheiben, Zungen oder Rechtecken aus Stoff auf sich, die viele Kostüme in ganz Europa verzieren? Gibt es überhaupt eine Bedeutung? Oder ging es den Fastnachtsnarren früherer Jahrhunderte einfach darum, sich möglichst schnell und kostengünstig ein Gewand zusammenzuflicken? An Theorien herrscht kein Mangel, zumal Flickenkostüme nicht auf den Anlass „Fastnacht“ begrenzt sind. Waldemar Liungman (1883-1978) veröffentlichte Ende der 1930er Jahre die Vermutung, nach der das Fleckenhäs auf eine Schauspieltracht des antiken Theaters zurückgeht. Laut Überlieferung hüllte sich der Possenreißer in bunte Lumpen. Vom Vorderen Orient über den Balkan die Donau aufwärts sei diese Art der Kostümierung bereits im 8. Jahrhundert in unsere Breiten gelangt und habe sich bis in die Gegenwart fast unverändert erhalten. Doch ein bloßer Sachzusammenhang über Zeiten und Kulturen hinweg beweist noch keine Kontinuität. Liungman konnte keine Belege für seine gewagte Annahme liefern. „Sagenhaft“ mutet die gängige Entstehungsthese der in Laufenburg am Hochrhein getragenen und mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückgehenden „Blätzlikleider“ an: Nachdem das Städtchen im Jahr 1386 unter die Herrschaft des Herzogs Leopold III. von Habsburg gefallen war, soll dieser den Bürgern die Erfüllung eines Wunsches gewährt haben. Die Ratsherren baten um ein Kleid, an dem man die Laufenburger in aller Welt erkennen könne. Als Wochen später ein Bote ein aus unzähligen bunten Lappen zusammengenähtes Wams überbrachte, gab es lange Gesichter. Einzig die städtischen Fischer freuten sich über das Schuppengewand, glich es doch den Körpern der heiß begehrten Lachse. Fortan nutzten sie es während der Fastnacht – dem Hauptfest ihrer Zunft – als Ehrenkleid der Maskenfigur des „Narronen“. Auf wissenschaftlicher Basis versuchte der Volkskundler Dietz-Rüdiger Moser Mitte der 1970er Jahre, das „Spättle-“, „Plätzle-“ oder „Fleckle“-Phänomen zu erklären. Er behauptete, die Kirche des Spätmittelalters habe fastnächtliche Formen bewusst inszeniert, um den Menschen die christliche Glaubenslehre nahezubringen. Eine „angeordnete“ Fastnacht sei dazu auserkoren worden, den Feiernden die sündhafte Welt und damit ihr Bedürfnis nach Seelenheil vor Augen zu führen. Vor diesem Hintergrund sollten sie die Fastenzeit als Gelegenheit verstehen, sich im Glauben zu üben. Moser war überzeugt, dass Geistliche jedes Detail der Fastnachtsfeier gezielt mit einer bestimmten Bedeutung versehen hatten – auch die bunten, mit Stoffresten besetzten Fastnachtshäs. Der Volkskundler interpretierte sie als Versuch, den durch Sünde „befleckten“ menschlichen Leib plastisch darzustellen. Fleckenkleider sollten während den „tollen Tagen“ „getragen und dann abgelegt werden, um jedermann zu zeigen, dass es in der Bußzeit darum ging, die Reinheit und Christusfrömmigkeit wiederzugewinnen, die das Taufkleid symbolisierte.“ Heute gelten Mosers Thesen als zu einseitig. Seine starr festgelegte Sichtweise auf die mittelalterliche Fastnacht verführte dazu, leichtfertig jedes Motiv einem genau definierten christlich-liturgischen Sinn zuzuweisen. Quellen, welche die Theorie untermauern, konnte der Wissenschaftler keine nennen. Jürgen Leibbrand, ein Schüler Mosers, musste dies auch hinsichtlich des Flickenhäs einräumen: „Selbstverständlich kann diese Interpretation nicht an Quellen belegt werden. Aber es erscheint doch als offensichtlich, dass das befleckte Gewand des Fastnachtsnarren im Widerstreit zu der Unbeflecktheit des Taufkleides steht.“ Adolf Spamer (1883-1953), ebenfalls Volkskundler, verwies bereits Mitte der 1930er Jahre auf den Zusammenhang zwischen „mit bunten Tuchläppchen benähten Maskenkostümen“ und der in mittelalterlicher Kunst sowie Literatur weit verbreiteten Figur des „Wilden Mannes“. Diese Gestalt fehlte offenbar bei kaum einer höfischen Festlichkeit, mit der eine Maskerade verbunden war. Auch im Rahmen europäischer Stadtfastnachten gehörten „Wilde Männer“ neben Teufeln, Männern in Frauenkleidern, Bauern, Mohren, Türken oder Juden spätestens ab Mitte des 15. Jahrhunderts zum gängigen Verkleidungsrepertoire. Die „Gottlosigkeit“ vereinte alle Typen, wobei der „Wilde Mann“ speziell als Inbegriff des Unzivilisierten und „Roh-Natürlichen“ galt. Meist wurde die Figur als bärtiges, mit gelbgrünen Fellstücken umhülltes Wesen dargestellt, wie die Chroniken der Nürnberger Fastnachtsumzüge von 1449 bis 1539 („Schembartbücher“) belegen. Adolf Spamer zeigte sich überzeugt, dass sämtliche Fleckengewänder der schwäbisch-alemannischen Fasnet – vom „Fleckenkleid des Elzacher Schuttig“ bis zu den „Plätzlehäs alemannischer Hänsele“ – auf das „Wildemannsfell“ zurückgehen. Die Landbevölkerung habe bei der „Herstellung“ des ungemein populären „Wilde Mann“-Kostüms aus Kostengründen auf Felle verzichtet. Statt dessen seien zunächst Naturmaterialien wie Moos, Baumflechten, Gras, Laub, Tannenreis oder Stroh verwendet worden. Mit Stoff wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt das Material gewählt, welches der Adel offensichtlich schon seit geraumer Zeit nutzte, um „Wilde Männer“ darzustellen. Kostbare Wandteppiche des 15. Jahrhunderts zeigen diese nicht mehr mit den bislang üblichen Fellgewändern, sondern in bunten Zottelkleidern. An den Höfen hatte die Figur eine Bedeutungserweiterung erfahren. Ihr durchweg negatives „Image“ löste sich auf. Der Traum zahlreicher Adliger, sich der beengenden höfischen Konventionen zu entledigen, übertrug sich auf den „Wilden Mann“. Dieser avancierte mehr und mehr zum Vertreter eines verklärten Naturlebens. Er wurde in Kunst und Literatur nicht mehr mit derben Fellen dargestellt, sondern in bunten Stoffkleidern. Sehr wahrscheinlich wandelten sich parallel dazu auch die „Wilde Männer“-Verkleidungen bei Hofe, was mit ziemlicher Sicherheit eine Nachahmung breiter sozialer Schichten nach sich zog. In den Nürnberger „Schembartbüchern“ findet bereits Anfang des 16. Jahrhunderts eine Einzelfigur Erwähnung, deren Gewand mit bunten Fransen besetzt war. Spamers Ansatz erntete viel Zustimmung. Noch heute existierende Vermummungen könnten seine Vermutung stützen. In Telfs (Tirol) umhüllt eine Flechtenart den ganzen Körper des „Wilden“, wie die Gestalt bezeichnet wird. Ebenfalls vollständig mit Naturmaterialien bedeckte Gewänder finden sich in Zell am Harmersbach: Das Häs des „Welschkorn-Narro“ bestand früher aus Schilf. Seit den 1950er Jahren verwenden die Narren Maisblätter. Den Anzug des „Schneckehüsli-Narro“ zieren 2500 Schneckenhäuser. Auch „Strohbären“ – heute beispielsweise noch in Wilflingen oder Singen vertreten – brachte Spamer mit dem „Wilde Mann“-Kostüm in Verbindung: „So wurde aus dem Wilden Mann ein strohener Fastnachtsbutz.“ Einen Zusammenhang zwischen „Strohbär“ und „Wildem Mann“ erkannte auch der Volkskundler Werner Mezger Anfang der 1990er Jahre. Er fand heraus, dass in der mittelalterlichen Fastnacht kaum ein Unterschied zwischen den Vermummungsformen „Wilder Mann“ und „Bär“ bestand. Beide verkörperten das „Wilde“ und „Gottlose“. Den „Strohbären“ bezeichnete er als „unentschiedenen Grenzgänger zwischen den klassischen Typen Bär und Wildmann“. Mit Wilhelm Kutter (1905-1980) und Jürgen Hohl, folgten zwei Autoren, die Mitte der 1970er Jahre Bücher zum Thema „Fastnacht“ veröffentlichten, der Rückführung auf das mittelalterliche „Wilde Mann“-Kostüm. Beide erklärten analog zu Spamer Naturmaterialien zu Vorläufern der „Stoffplätz“. Verwiesen wurde jeweils auf einen Holzschnitt Pieter Brueghels d. Ä. aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, welcher einen „Wilden Mann“ in dörflichem Ambiente zeigt. Er trägt ein schuppiges Kleid und in den Haaren hängt Laub. Im Hintergrund werden – typisch für mittelalterliche Fastnacht – Gaben geheischt. Ab einem unbekannten Zeitpunkt seien die primitiven Naturmaterialien durch Tuchstreifen ersetzt worden, welche man ohne Rücksicht auf Farbe und Form abgetragenen Kleidern anheftete. Pate für diese ersten „Fetzengewänder“ der Landbewohner, im Dialekt „Fossli“ oder „Fotzli“ genannt, standen sehr wahrscheinlich – wie bereits dargelegt – die zottligen, aus Stoff gefertigten „Wilde Mann“-Kostüme des Adels. Bis heute existieren Vertreter solcher Fetzengewänder. Zu sehen sind sie beispielsweise beim „Fetzenfasching“ im oberösterreichischen Ebensee, in Siebnen in der Schweiz sowie im bereits erwähnten Wilflingen, wo der „Teufel“ ein einfaches Gewand aus Rupfen trägt, an dem viele lange bunte Stoffstreifen befestigt sind. Auch das Schwarzwaldstädtchen Bonndorf verfügte bis Ende des Ersten Weltkriegs über so genannte „Fotzli-Hansili“. Aufgrund noch erhaltener Glattlarven können diese relativ genau auf Mitte 18. Jahrhunderts datiert werden, wenngleich der Typ des Fetzenhäs mit Sicherheit älter ist. Nach Ansicht des Volkskundlers Martin Blümcke stellen die Fetzengewänder „eine Urform der heutigen Plätzle-, Spättle- oder Flecklekleider“ dar. Ein weiterer Entwicklungsschritt hin zu den heutigen Häs markiert wohl die Verwendung rautenförmiger, runder, zungen- oder dachplattenartiger Stoffreste, welche teilweise bereits „schuppenförmig“ übereinander genäht wurden. Auf Farbabstimmung oder gleichmäßige Anordnung achtete man nicht. Bei einer ganzen Reihe von Narrengewändern lässt sich dieser immer noch recht derb wirkende Aufputz bis in die 1920er Jahre nachweisen. In jener Zeit hatten ein neues bürgerliches Stilempfinden und zunehmende Fastnachtsverbote der Obrigkeiten dann nicht nur eine straffere Organisation zur Folge, sondern auch die Veredelung und Uniformierung der Maskenfiguren. Man wollte nach außen ein „sauberes“, „schönes“ sowie – in Abgrenzung zu anderen Orten – eigenständiges und unverwechselbares Erscheinungsbild vermitteln. Rückständig-wüstes Auftreten passte nicht mehr ins Bild, zumal die schwäbisch-alemannische Fasnet nun vermehrt öffentliche Beachtung erfuhr. Das bereits 1765 erwähnte Häs des Markdorfer „Hänsele“ beispielsweise bedeckten unregelmäßig aufgenähte und bunt zusammengewürfelte Stoffreste. 1924 erklärte man anläßlich der Zunftgründung gleichmäßig geschnittene „Plätzle“ in farbig festgelegten Reihen zum verbindlichen Stil. Ähnliches geschah in Engen. Die Mitglieder des 1875 gegründeten Narrenvereins benannten sich erst 1925 in „Narrenzunft“ um und einigten sich zwei Jahre später auf ein neues Erscheinungsbild ihres „Hansele“. Manche Orte erreichte diese „Veredelungswelle“ mit zeitlicher Verzögerung: Beim Weingartner „Plätzler“ oder dem Stockacher „Hänsele“ erfolgte die Neugestaltung erst während der 1930er Jahre. Der Immendinger „Hansel“ – heute ein Weißnarr – war sogar noch 1937 in seinem Aussehen sehr variabel. Grundverschiedene und recht „wild“ wirkende „Plätzle“-Versionen existierten nebeneinander. Demgegenüber stehen Städte und Gemeinden, deren mit Flicken versehene Narrenfiguren bereits vor dem Ersten Weltkrieg „verschönert“ wurden. Ähnlich wie sein Rottweiler Namensvetter zeichnete sich beispielsweise der Oberndorfer „Schantle“ lange Zeit durch besonders rüdes Verhalten aus. Zitate honoriger Bürger belegen dies. Man hatte sich spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts dem Karneval zugewandt und für die eigenen Maskenbälle verfügt, dass „weder Narro mit Rollen und Hansel noch die ekelhaften Schantle“ Zutritt erlangten. Letztere lieferten mit ihren speckigen Anzügen aus Rupfen- oder Sackleinen, die mit unregelmäßigen dunklen Stoffscheiben bedeckt waren, keinen „schönen“ Anblick. Beim „Narrensprung“ durften sie erst nachmittags mitmachen. Mit Gründung der Narrenzunft im Jahr 1908 und deren Ziel, „die Fastnacht in saubere Bahnen zu lenken“, änderte sich augenblicklich das Erscheinungsbild der Obernorfer „Schantle“. Sie hatten sich „unbedingt in reinlichem Zustand“ zu präsentieren. Die Hästräger zogen mit. Ein dezent karierter Stoff verdrängte den Rupfen. Die nun rosettenartigen und bunten Scheiben besaßen alle dieselbe Größe. Ein stilisiertes Hütlein tat sein Übriges. Solchermaßen veredelt, durften sich die ehemals rustikalen Gesellen bald auch vormittags zeigen. In Elzach beklagten Bürger seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das wüste Treiben junger Männer, die „in schmutzigen, verwahrlosten Maskenkleidern“ ihr Unwesen trieben. 1910 beschloß ein kleiner Kreis von Honoratioren, das anstößige, furchterregende Aussehen der so genannten „Schuttig“ durch eine Umwandlung der bislang dunklen, zottligen und fleckigen Montur abzumildern. Ein Jahr später war die Überraschung der Bewohner groß, als beim Fackelumzug am Sonntagabend rund ein Dutzend Hästräger in neuen roten Anzügen mit gleichmäßig geschnittenen schmalen Stoffstreifen und roten Wollbollen an den Hüten erschienen. Das Gewand des Furtwanger „Spättlehanseli“ erwies sich bis in die 1980er Jahre als „lebendig“. Um 1875 trugen die Narren einen gewöhnlichen abgetragenen Anzug, der mit hunderten von beliebig großen und bunten Stoffresten übernäht worden war. Vor dem Ersten Weltkrieg verschwand diese Verkleidungsform. Erst Ende der 1920er Jahre belebte man die Figur neu und entwickelte gemäß dem damaligen Trend feste Richtlinien für die Herstellung des Gewandes. Während der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg erfreuten sich grelle Farben immer größerer Beliebtheit. Filz avancierte zum bevorzugten Material. Kaum ein Narr oder eine Närrin nähte noch mit Hand, die Nähmaschine verrichtete diese Arbeit. Zu Beginn der 1980er Jahre – ein Jahrzehnt, in dem vieles „Historische“ und „Traditionelle“ besondere Aufwertung erfuhr – entschieden sich die Zunftmitglieder nicht nur dafür, wieder Stoff in unauffälligeren Farben zu verwenden, sondern dem Gewand jenen ungeordneten, zufälligen Ausdruck zu verpassen, der von den Vorfahren Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben worden war. Dies Beispiel aus Furtwangen wirft die Frage auf, ob die wechselvolle Geschichte des „Spättle-“, „Plätzle-“ oder „Flecklehäs“ heute zu Ende ist, oder ob es in fünfzig oder hundert Jahren zu weiteren Veränderungen kommt – Veränderungen, die auf Rückgriffe gründen oder Neues integrieren. Wegzudenken aus der schwäbisch-alemannischen Fasnet ist es auf alle Fälle nicht mehr. Veröffentlicht in "Narrenbote" Nr. 28, 2004 |
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