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Cannstatt, Kübler, Felbaköpf ...
von Wulf Wager

Nikolaus Thouret, königlicher Baumeister und Erbauer des ehrwürdigen Cannstatter Kursaales, hätte sich im Grab umgedreht, wenn er mitbekommen hätte, was ein Kursaalwirt und seine Freunde vom Gesangverein „Concordia“ aus seiner Wandelhalle gemacht haben. Ein komplettes Marktgeschehen wurde installiert, Butten, Kübele und Leitern wurden feilgeboten, Schweine durch den Saal getrieben und eine urwüchsige Saalfasnet unter dem Motto „Kübelesmarkt“ gefeiert. Das war 1923. Weil das so gut ankam, gründete man ein Jahr später den fasnächtlichen Verein „Kübelesmarkt Bad Cannstatt“. Einer der Gründerväter war der Volksschauspieler und spätere SDR-Rundfunkmoderator Albert Hofele. Seither ist viel Wasser den Neckar hinuntergeflossen und aus dem Geselligkeitsverein ist eine Zunft geworden, die in der närrischen Diaspora die Fahne der schwäbisch-alemannischen Fasnet hochhält.


Der Cannstatter Mond erinnert an eine Aktion der Cann­statter Feuerwehr, bei der Ende des 19. Jahrhunderts die Uff-Kirche gelöscht werden sollte. Allerdings schien nur der Mond durch die Fenster, was die vom Trollinger beseelten Cannstatter mit einem Feuer verwechselten. Seither sind die Cannstatter Mondlöscher. Foto: Ralf Siegele


Feuchte Taufe im Freien
Axel Rahm, der Maskenmeister der Cannstatter Felbenköpfe, steigt am Morgen des 6. Januar sehr früh aus den Federn. Heute ist er allerdings schneller auf den Beinen als an den übrigen Tagen des Jahres. Warum wohl?
Die Cannstatter Kübler sind am Morgen des Dreikönigstags von der Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte die Ersten, die sich zu einer närrischen Zusammenkunft der besonderen Art treffen. Schon um sechs Uhr beginnt das Maskenabstauben mit einem gemeinsamen herzhaften Frühstück im Zunfthaus. Derart gestärkt reinigt der Maskenmeister zum Klang des Küblermarsches symbolisch drei Masken: einen Felbenkopf, einen Mond und die kunstvoll gefertigte Larve des Brunnengeistes. Doch der Höhepunkt des frühmorgendlichen Treibens steht noch bevor und ist ohne Zweifel die feuchtkalte Taufe der neu in die Gruppe aufzunehmenden Narren. Sie vollzieht sich, und sei es noch so eisig, in der Küblergasse vor dem Zunfthaus. Die bereits getauften Narren bilden dabei ein langes Spalier, bewaffnet mit allerhand Behältnissen, in die Wasser geschöpft wurde.


Die Stuttgarter Zimmererinnung stellt am Schmotzigen Donnerstag den Narrenbaum im Schatten der evangelischen Stadtkirche vor dem Alten Cannstatter Rathaus auf. Foto: Wolfgang Buck


Die Narrennovizen erhalten vom Maskenmeister ein mit gutem Cannstatter Sauerwasser gefülltes Kübele, sprechen: „Ich trinke aus dem Henkeltopf, damit ich werd’ ein rechter Narrentropf“ und schreiten dann einzeln gemächlichen Schritts durch das Narrenspalier. Dabei werden die Gefäße mit leicht temperiertem Wasser über dem Neuling entleert. Wenn einer der „Alten“ im Übermut einen der bereitgestellten Kübel, die als Wasserreservoir dienen, komplett über dem zukünftigen Narren entleert, muss er selbst noch einmal die Taufe über sich ergehen lassen – und zwar in den Kleidern, die er gerade trägt. Nach diesem närrischen „Spießrutenlauf“ erhält der Aspirant Narrenzeugnis und Maske. Damit gilt er als vollwertiges Mitglied der Cannstatter Narren. Je kälter der Morgen und je mehr Täuflinge antreten, umso größer die Gefahr, dass aus der Gasse der Narren eine richtige Eisbahn, eine „Schleifetse“, wird.
Zur Erneuerung des Schwurs wiederholt sich die Taufe nach zehn und fünfundzwanzig Jahren. Selbstverständlich leisten alle Täuflinge, ganz egal ob Frischling, Zehner oder Fünfundzwanziger, einen närrischen Programmbeitrag zur Erheiterung des anwesenden Narrenvolks.


Das Kübelesrennen lockt alljährlich tausende auf den Cannstatter Marktplatz. Prominente Mannschaften wagen sich auf den HIndernisparcours.


Wilde Waschweiber wirbeln wolllüstig durch die Stadt
Der Schmotzige Donnerstag ist der eigentliche Höhepunkt der Cannstatter Staßenfasnet. Schon am Morgen beginnt das Treiben mit einem närrischen Wochenmarkt, zu dem die Marktbeschicker laden, allesamt als Marktweiber verkleidet. Salatköpfe fliegen durch die Luft, zwischen Sellerie, Karotten und Käse wird getanzt, launige Reden stimmen die Marktbesucher ein und die Lumpenkapelle spielt, was das Blech hergibt. Es ist vor allem der Tag der „Waschweiber“, die singend und das Kübele mit Rasierschaum wild schwingend durch die Amtsstuben des Rathauses, durch die Polizeiwachen und Geschäfte ziehen. Kein männliches Wesen ist vor den Furien sicher. So manch einer bekommt eine neue Frisur und wer versehentlich eine Krawatte trägt, verliert mit Sicherheit deren Spitze. An keinem andern Tag wird in Cannstatt so viel geküsst.

Bevor jedoch mit dem Kübelesrennen der Höhepunkt des Tages beginnt, wird noch schnell von der Stuttgarter Zimmererinnung der Narrenbaum vor dem Rathaus aufgestellt.

Promis in Nachthemd und Zipfelmütze
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Wo am Morgen noch Salatköpfe den Besitzer wechselten, ist nun ein Hindernisparcours aufgebaut. Wippe, Stadttore, Brücken, ein hölzerner Brunnen und vieles andere wartet auf die teilnehmenden Mannschaften, die sich noch mit Nachthemd und Zipfelmütze bekleidet beim Hemdglonkerumzug befinden. Der endet auf dem Marktplatz und das Kübelesrennen kann beginnen. Prominente Mannschaften vom Oberbürgermeister bis zu VfB-Fußballstars stürzen sich in einem dreirädrigen Holzkübele sitzend in den närrischen Hindernislauf, von einer vieltausendköpfigen Zuschauerschar freudig beäugt. Besondere Schadenfreude tritt zu Tage, wenn das Rennkübele der Politessen ins Straucheln gerät und umkippt. Schon um 20 Uhr scheinen die zahlreichen Gasthäuser und Weinstuben aus den Fugen zu geraten. Ein Sitzplatz ist nicht mehr zu bekommen. Ein Wunder, dass die Lumpenkapellen, Maschkergruppen und Guggenmusiken noch ein Plätzchen finden, wo sie aufspielen können.

Glücksmomente für behinderte Kinder
Am Freitag gibt es in Cannstatt kein Fasnetstreiben, mit einer Ausnahme: Eine stattliche Anzahl von Felben, Monden, der Brunnengeist und der Geizig besuchen die Christian-Hiller-Schule für geistig behinderte Kinder. Dies ist allerdings keine Pflichtübung für die Narren, sondern ein großes Herzensanliegen. Wer einmal die freudigen Augen der Kinder gesehen hat, wenn sie selbst eine Maske aufziehen, eine Rätsche schwingen oder einen Gschellriemen tragen dürfen, wird diesen Glücksmoment nicht wieder vergessen.

Cannstatter Felbenkopf im Blätzlehäs Felbentanz am Neckarufer

Narrentheater am Neckarufer
Da sich der Küblerball am Samstag meist bis in die frühen Morgenstunden des Fasnetssonntags ausdehnt, beginnt das Narrentreiben erst mit Einbruch der Dämmerung. Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit spielen die Mitglieder der Narrengruppe die „Felbensaga“, also jene Geschichte, der die Cannstatter den Spitznamen „Felbenköpfe“ zu verdanken haben. Im Jahre sechzehnhundertwoischnemme belagerte der französische Mordbrenner General Ezéchiel de Mélac das nahe Esslingen. In Cannstatt hatte man Angst vor seinen Brandschatzungen. Der Nachtwächter hielt deshalb besonders aufmerksam Wache. Plötzlich sah er auf der anderen Seite des Neckars „baumlange Kerle“ aufmarschieren und alarmierte die Bürgerwehr. Als sich dann am Morgen der Nebel lichtete, mussten die Cannstatter feststellen, dass dies keine Franzosen waren. Vielmehr standen dort Weidenstümpfe, von denen die Korbmacher die jungen Ruten, im Dialekt „Felba“, abgeschnitten hatten. Seither nennt man die Cannstatter „Felbaköpf“.

Die Schrottmusik führt den Kinderumzug am Fasnetssonntag an.
Alle Fotos: Wolfgang Buck
Die Lumpenkapelle gibts nur an einem einzigen Tag – am Schmotzigen.

Wikinger und Schokoriegel
Mehr als dreißig Kindergärten, Tagheime, Horte und Schulen haben sich wochenlang auf das Ereignis des Jahres vorbereitet: Am Fasnetsmontag ist Kinderumzug. Wikinger, viele Harry Potters, ein ganzer Zoo, Marienkäfer und Germanen, Indianer und Kirchenmäuse besiedeln die historische Innenstadt. Mit sehr viel Liebe zum Detail beschäftigen sich die Pädagogen schon Wochen und Monate vorher mit dem Thema ihrer närrischen Darstellung. Der Lohn für diese Mühe ist ebenso mager wie heiß begehrt: eine rote Wurst in einem Wecken, den der Küblerrat den Kindern spendiert.
Mit nicht weniger Eifer und Mühen haben sich die Schnurrgruppen auf den Abend vorbereitet. Jetzt sind die Cannstatter unter sich. Man setzt sich in eine der vielen Weinstuben, trifft sich mit Freunden und wartet auf die Schnurrgruppen, die in die Gasthäuser einfallen. Hier entfaltet sich die Kreativität der wilden, ungeordneten und unreglementierten Fasnet. Vom Persönlichkeitstest, über schwule Friseure bis hin zu den Höhlenmenschen und Schokoriegeln reicht das Spektrum närrischer Ideen. Nur wenige Wirtshaushocker kommen ungeschoren davon. Von den Waschweibern mit Rasierschaum eingeseift, von den Friseuren die Haare gefärbt oder die Koteletten rasiert, von den Schokoriegeln mit Süßem vollgestopft und von den Metzgern mit Theaterblut bespritzt; von den Ärzten närrisch untersucht, von Kosmetikerinnen die Nägel lackiert, von Gärtnerinnen mit Samentütchen ausgestattet und vom Olympiateam motiviert – zum Glück ist nur einmal im Jahr Fasnetsmontag. Für viele Cannstatter ist dies der schönste, der persönlichste Abend der Fasnet. Vielleicht auch deshalb, weil keiner ungeschoren davonkommt.

Am Fasnetssonntag versammelt sich der Rat der Kübler zu einer feuchtfröhlichen Stunde. Küblerrat und Bürgermeister beim Rohrtrunk, einem 700 Jahre alten Brauch

Geizig isch der Bäck
Der Fasnetsdienstag gehört wieder der Öffentlichkeit. Während die Narren mit dem Spielmannszug durch die Läden ziehen, hat sich der Küblerrat mit dem Oberbürgermeister und den Honoratioren der Stadt zu einer Küblerratssitzung ins Kleine Rathaus, der typischsten aller Weinstuben der Sauerwasserstadt, zurückgezogen. Dort gilt es, Wortgefechte mit dem scharfen Mundflorett auszutragen.
Draußen in der Marktstraße rotten sich derweil mehr als 800 Kinder zusammen, um auf den „Geizig“ zu warten, eine Figur, die nur am Fasnetsdienstag auftritt. Glockenschlag zwölf Uhr tritt er auf den Plan und führt die Kinder, beständig zu Geizig-Rufen anfeuernd, von Laden zu Laden. „Geizig, geizig, geizig isch der Bäck. Und wenn er net so geizig wär, no gäb er au a paar Brezla her!“ So schreiend fordern die Kinder und der Geizig die Ladenbesitzer zur närrischen Bescherung auf. Gut zwei Stunden dauert der Zug der Kinder. Er endet vor dem Alten Rathaus, das in diesen Tagen besonders fasnächtlich dekoriert ist.
Dort warten nun die Erwachsenen auf den Sturm des Rathauses. Mit einem Festspiel übernehmen die Kübler für wenige Stunden die Regierungsgewalt und versöhnen sich mit dem Schultes beim Rohrtrunk, einem jahrhundertealten Brauch, der von der Ablösung von Zehntrechten stammt. Mittels eines langen Rohres darf jeder männliche Bürger aus öffentlich aufgestellten Weinbutten so viel trinken „alls ihm bekömmet“, wie es in einer alten Urkunde heißt. Während die Narrenzunft Kübelesmarkt noch einen Besuch im Altenheim macht, feiern die Kinder im Kursaal ihre Fasnetsparty.

Schwerttanzaufführung am Fasnetsdienstag.
Höhepunkt ist das Schwertgeflecht, auf dem der Vortänzer von der Gemeinschaft symbolisch getragen wird.

Dann kehrt für einen kurzen Moment Ruhe im Städtle ein. Hie und da hört man das leise Klingen eines Felbenglöckchens, ein entferntes Rätschen oder den vollen Klang eines Mondg’schells.

Kurz vor sieben rücken die Schwerttänzer aus, um vor dem alten Rathaus ihren Tanz aufzuführen. Weiß gewandet, mit roten Schärpen umgürtet und rote Baretts tragend ziehen sie zum Klang von Trommeln und Pfeifen auf. Begleitet werden sie von einem Narren mit Spitzhut und rußgeschwärztem Gesicht. Dieser Tanz wurde als Reminiszenz an die Schwerttänze des 16. Jahrhunderts in den 1950er Jahren vom österreichischen Volkskundeprofessor Richard Wolfram nach alten Tanzbelegen neu geschaffen. Seit einigen Jahren wird der Schwerttanz am Abend des Fasnetsdienstags aufgeführt. Höhepunkt ist die symbolische Tötung des Narren, also des „Gottesleugners“, und seine Wiedererweckung als Bekehrter. Er übernimmt den Platz des Anführers, der auf einem Geflecht aus Schwertern von allen Tänzern über deren Köpfe gehoben wird.


Der Trauermarsch zur Fasnetsverbrennsäufung wird von zwei scheinheiligen „Geistlichen“ angeführt.
Fotos: Jutta Braun., Archiv Kübelesmarkt, Wolfgang Buck
Der „außerchristliche“ Narr wird beim Schwerttanz symbloisch getötet und als Bekehrter wiedererweckt.


Das Ende: Fasnetsverbrennsäufung
In den Abendstunden dümpelt die Fasnet ihrem Ende zu. Die Geldbeutel sind leer, die Herzen voll und mancher Narr auch. Zaghafter als an den Abenden zuvor füllen sich die Gaststätten. Vereinzelt ziehen noch Felben und Monde durch die Wirtshäuser, um aufzusagen, was noch zu sagen ist. Doch kurz vor zwölf treffen sich noch einmal alle vor dem Zunfthaus. Die noch vor Stunden närrischen Bürger der alten Oberamtsstadt haben sich in schwarze Gewänder gehüllt. Ruhig formiert man sich zu einem Trauerzug, der, angeführt von zwei „scheinheiligen Geistlichen“ und einem Musikanten mit einer großen Trommel, in langsamen Schritten durch die Marktstraße zum Rathaus zieht. Mit sich führt man eine auf einer Bahre liegende Strohpuppe. Vor dem Rathaus versammelt sich die vielhundertköpfige Trauergemeinde um den Narrenbaum und singt gemeinsam: „Nehmt Abschied Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr“. Die bislang ausgelassene Stimmung wird ernst und feierlich und es geht wenige Meter weiter zur Wilhelmsbrücke. Am Scheitelpunkt angekommen erheben die beiden Geistlichen das Wort und sprechen Mahnendes an die versammelte Narrenschar, bevor die Strohpuppe über das Brückengeländer gehängt und angezündet wird. Kurz darauf stürzt sie in den Neckar und versinkt langsam in den dunklen Fluten des Flusses. Verglimmend treibt sie auf dem schwarzen Nass. Vereinzelt hört man noch den Ruf: „Hebet se!“

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