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Jokili aus dem Urwald
Ein Kaiserstühler Fastnachtsbrauch in Venezuela

von Patrik Müller

Fachwerkhäuser, Kuckucksuhren, Eisbein mit Sauerkraut: Dieses Städtchen könnte im Herzen von Deutschland liegen – wenn nur die vielen Palmen nicht wären. Vor 160 Jahren gründeten Auswanderer vom Kaiserstuhl die Colonia Tovar in Venezuela, eine deutschsprachige Enklave mitten im Urwald. Ihre Nachfahren pflegen heute noch deutschen Dialekt und deutsche Traditionen.
Fasnet zum Beispiel.


Foto: Peter Haller
Die Nachnamen haben sie behalten. Einige zumindest: Guth, Misle, Dürr, Breidenbach, Muttach. Nur die Vornamen haben sich geändert. Senor Misle hört auf den Vornamen Juan Carillo, Senor Breidenbach wird von seinen Freunden Andrés genannt, der Bürgermeister heißt Alfredo Dürr. Immerhin: Ralf Muttach, der Oberzunft-meister, hat einen deutschen Vornamen.
Und ein Problem: Wenn der 36-jährige Koch seine Heimatstadt verlässt, kann eigentlich niemand seinen Namen so richtig aussprechen. „Muttatsch“, sagen die Venezolaner, nicht „Muttach“, wie es richtig wäre, mit einem „ch“ wie in „Rachen“. Der oberste Jokili südlich des Äquators hat sich daran gewöhnt. „Ich verbessere keinen“, sagt er, „Südamerikaner können den Laut einfach nicht aussprechen.“


Ein bisschen von allem

Ein richtiger Südamerikaner ist er nicht, „el Presidente de la Asociación de los Arlequinos de la Colonia Tovar“. Ein richtiger Deutscher aber auch nicht. Ralf Muttach ist wie die Stadt, in der er lebt: Ein bisschen von allem. In Colonia Tovar spricht man nicht nur Spanisch, sondern auch Alemán Coloniero, eine Mischsprache, die sich aus dem Kaiserstühler Dialekt des 19. Jahrhunderts gebildet hat. Man wohnt in der Calle Bolivar, aber auch in der Calle Hessen. Man trifft seine Freunde im Molino Rojo oder dem Café Muhstall und isst dort Kassler, aber auch Arepas – runde Fladen aus Maismehl. Man lebt gut in zwei Welten.


Die Tovarer Jokili fühlen sich in der „alten Heimat“ Endingen wohl.


Die verrückten Tovarer

„Loco“ ist das spanische Wort für verrückt. Und genau so werden die Tovarer gerne mal von ihren Nachbarn bezeichnet. „Als wir zum ersten Mal einen Hemdglunker-Umzug gemacht haben, dachten schon einige: Die sind jetzt verrückt geworden“, erzählt der Oberzunftmeister. „Aber für uns ist es Tradition, wir kommen schließlich vom Kaiserstuhl.“ Richtig vergessen hatten die Tovarer ihre Wurzeln zwar nie, dennoch gab es lange Zeit keine offizielle, organisierte Fasnet. Die feiert man erst wieder seit 1976, komplett mit Zunft und Zunftmeistern, (fast) traditionellem Häs und freundlicher Erlaubnis der Mutterzunft aus Endingen. Schuld daran ist Franz Vollherbst, der ehemalige Oberzunftmeister der Kaiserstühler Original-Jokili. Als er in den 70er-Jahren zu Besuch in der Colonia Tovar war, hatte er ein besonderes, wertvolles Gastgeschenk im Gepäck: Eine hölzerne Jokililarve. Die überreichte er einem gewissen Pablo Dürr, der daraufhin nicht nur zum gefragten Maskenschnitzer avancierte, sondern auch zum Oberzunftmeister der Tovarer Narren. Mittlerweile gehören der venezolanischen Zunft rund 120 aktive Jokili an – wenn die Fasnet feiern, fallen Tausende von Besuchern in den pittoresken Ort mit seinen Fachwerkhäusern ein: „Loco“, aber auch „muy interesante“.


„Tovarer Jokili sin wieder do“

Die Fasnet in Venezuela ist, das liegt in der Natur der Sache, natürlich eine andere als die Fasnet am Kaiserstuhl. Das fängt schon damit an, dass es wirklich nie Schnee gibt und keine dicken Jacken getragen werden müssen, wenn die Tovarer Jokili die Straßen unsicher machen – ein T-Shirt reicht eigentlich, meistens jedenfalls, trotz Gebirgslage und einer Höhe von 1800 Metern über Normalnull. Auch das Häs ist ein anderes. Die Larven sind (fast) gleich, fallen nur ein bisschen dunkler aus. Die Hauptfarbe Rot ist auch geblieben, wird aber ergänzt – durch einige kecke Zipfel und Blau und Gelb, den Nationalfarben Venezuelas. „Narri, Narro, narri, narro, d’ Tovarer Jokili sin wieder do“, schallt es dann durch die Straßen, wenn sich der närrische Tross in Bewegung setzt. Dem Zug voraus läuft, wie in Endingen, das übermannsgroße Stadttier – diese wild tobende Einzelfigur, halb Gaul, halb Stier, gehört zu den traditionellen Besonderheiten der Endinger Fasnet.


Foto: Ralf Siegele
Taufe im Brunnen

Eine Narrentaufe gibt es natürlich auch, eine feuchtfröhliche Zeremonie mit kaltem Wasser, die am 11.11. um 11.11 Uhr abgehalten wird. Der Taufspruch, der während „el bautizo“ aufgesagt wird, ist purstes Alemannisch: „Mit äm Glekle un mit dr Saublodäre, vu jetzt ä wäck ränt Jokilibluät in mini Odere.“ Grund zu feiern haben die Tovarer an diesem Tag sowieso – der offizielle Beginn der fünften Jahreszeit ist zugleich der Jahrestag des Stadtpatrons San Martin de Tours.

Das eigentliche Treiben beginnt, auch das entspricht deutschem Vorbild, am Schmutzigen Donnerstag. „Batas Blancas“ wird der Tag genannt. Das kann man ganz wörtlich als „weiße Kittel“ übersetzen, aber auch mit dem im Spanischen nicht vorhandenen Terminus technicus „Hemdglunker“. Die alemannische Tradition wird, obwohl sie hier unter dem Kreuz des Südens praktiziert wird, stilecht begangen – mit sägenden Rätschen und lauter Musik. „Jokili kumm!“, ruft der Zeremonienmeister – und erweckt so den maskenlosen Oberjokili zum Leben.

Dann herrschen die Narren in der Colonia Tovar. Nicht nur in den Gaststätten und Kneipen, sondern auch in den Straßen. So wie in Deutschland. Die Festwagen beim Umzug greifen in ihrer Gestaltung zwei wichtige Jokiliutensilien in Holz und Pappmaschee auf: den Schuh und die Mütze. Die Saublodäre, die getrocknete Schweinsblase am Stock, ist natürlich auch dabei. Am Dienstag geht alles dann zu Ende, mit vielen Tränen und viel Schwarz – auch dort steht der Dienstag im Zeichen der Trauer. Im Jahr 2005 haben die Tovarer die Figur des schwarzen Jokili eingeführt – und zelebrieren Jahr für Jahr einen lustvollen Abschied mit schmerzvollem Schluchzen und trauriger, getragener Musik. Auch der Aufbau der „Asociación de los Arlequinos de la Colonia Tovar“ erinnert stark an eine deutsche Zunft. Ganz oben steht, wie könnte es auch anders sein, Ralf Muttach, der Oberzunftmeister. Ihm zur Seite steht Juan Carillo Misle, der Zeremonienmeister der Truppe – die beiden Männer sind momentan nicht nur der Kopf der Tovarer Fasnet, sondern auch das Gesicht. Einen Oberjokili gibt es auch, ganz wie in Endingen, das gilt auch für Zunfträte – dazu kommen dann noch einmal knapp hundert begeisterte Hästräger, junge und alte Tovarer, die sich einmal im Jahr das Jokili überziehen und die Straßen unsicher machen.


Zu Besuch in der alten Heimat

Vor fünf Jahren, im Januar 2007, waren sie wieder einmal im Land ihrer Väter. 31 Männer und Frauen aus Venezuela, Vorfreude in den Köpfen und das rot-gelb-blaue Häs im Koffer, setzten sich ins Flugzeug und reisten an den Kaiserstuhl zum Narrenfest 2007, zu dem die Endinger anlässlich des des 225. Geburtstages ihres Jokili knapp zwei Dutzend handverlesene Zünfte aus ganz Europa (und eine aus der neuen Welt) eingeladen hatten. Beim großen Umzug marschierten sie mit, als stolze Vertreter der Colonia Tovar, als Repräsentanten eines Kontinents, den niemand, eigentlich auch zu Recht, mit Fasnet in Verbindung bringt – maximal mit dem Karneval in Rio.


40 Grad Unterschied

Die Tovarer Jokili genossen ihren Aufenthalt, mussten aber auch kräftig zittern: Ihr Häs ist für wärmeres Wetter gemacht – und selbst die milden Winter im Breisgau können hart sein, wenn man aus Südamerika kommt und nur eine zu dünne Schicht Stoff trägt. „Wir haben natürlich ein bisschen was drunter angezogen“, erzählt Oberzunftmeister Muttach, „aber es war trotzdem kalt.“ Ist natürlich alles auch Gewöhnungssache: Als die Tovarer Jokili sich in Caracas ins Flugzeug setzten, zeigte das Thermometer sonnige 34 Grad im Schatten an. Bei der Landung in Zürich erlitten die Tovarer dann einen Kälteschock: sieben Grad. Minus natürlich.

Foto: Ralf Siegele


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